09. 08. 2022 | MFI Asset Management

Ohne Anker, ohne Fixpunkt und ohne Kompass

Die Rentenmärkte befinden sich nach dem Notenbankversagen in einer Phase der Neuorientierung. Es scheint, als wäre der Markt ohne Anker, ohne Fixpunkt und ohne Kompass. Denn der vermeintlichen Gewissheit über die Stabilität der Leitzinsen auf niedrigstem Niveau (wie noch vor 6 Monaten) ist einer verzweifelten Suche nach dem für das aktuelle Szenario angemessenen Zinsniveau gewichen. Die Meinungen darüber gehen weit auseinander und verändern sich laufend. Hohe Volatilität an den Rentenmärkten ist das Ergebnis.

Ein altes Seefahrer-Sprichwort besagt: „Wenn das Schiff auf falschem Kurs ist, genügt es nicht, den Kapitän auszuwechseln – man muss den Kurs ändern.“

Die Entwicklung an den internationalen Rentenmärkten im ersten Halbjahr war selbst für die alten Hasen am Markt ein Erlebnis, das für niemanden ein Déjà-vu gewesen sein kann. Gravierende Fehleinschätzungen seitens der Notenbanken sowie der Krieg in der Ukraine haben für Orientierungslosigkeit und damit für eine außerordentlich hohe Volatilität am Rentenmarkt gesorgt.

Notenbanken: Inflation! Welche Inflation?
 

Dass die Inflation im Jahr 2021 wieder ihr hässliches Köpfchen hob, wurde seitens der Notenbanken noch als zu erwartende Entwicklung nach dem Kollaps der Rohstoffpreise im Jahr 2020 und damit als reiner Basiseffekt gesehen. Schon im Jahr 2022 würde die Preissteigerungsrate wieder auf den Zielwert von 2 % zurückkehren. Eine geldpolitische Reaktion darauf sei daher nicht notwendig, die Zinsen würden noch länger bis mindestens 2024 auf dem aktuellen Niveau bleiben.

Mit diesem Narrativ gingen der Markt und die Notenbanken ins neue Jahr 2022. Die Inflationsspitze in Euroland sei im Januar mit 5,2 % erreicht und bis Jahresende wieder der EZB-Zielwert, ohne dass die Zinsen angepasst werden müssten, Realität. Diese Mär, dass sich die Inflation nur vorübergehend erhöht, beruhte im Wesentlichen auf der Erfahrung der letzten 30 Jahre, dass die Inflation offenbar grundsätzlich dazu neigt, eher zu fallen als zu steigen.

Was hat der Inflation in der Vergangenheit entgegengewirkt?
 

Die Gründe für diese Beobachtung sowie die Frage, ob die Ursachen dafür weiter Bestand haben, wurden nicht hinterfragt. Dass die Globalisierung, die Effizienzsteigerung durch Automatisierung, Datenverarbeitung, Nutzung der Informations- und Kommunikationstechnik als disinflationäre Megatrends in den letzten 30 Jahren in Kombination mit der Verfügbarkeit von billigen Arbeitskräften nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Öffnung Chinas einen Scheitelpunkt erreicht haben könnten, spielte bei den Inflationsprognosen der Notenbanken keine Rolle. Zu unbequem waren offenbar die daraus resultierenden Schlussfolgerungen

Gamechanger: Krieg!
 

Der Krieg hat die Situation an den Rentenmärkten sowie das Szenario spätestens ab März dann dramatisch verändert.  Der Angriff Russlands auf die Ukraine führte unmittelbar zu Sanktionen und Gegensanktionen, zu Embargos und Liefereinschränkungen. Diese „Zeitenwende“ zerstörte die bis dahin wie geschmiert laufenden Energieversorgungsbeziehungen zwischen Europa und Russland. Öl wurde durch den Westen auf die Sanktionsliste genommen und Gaslieferungen durch Russland auf ein Maß reduziert, das die Wiederauffüllung der Speicherkapazitäten massiv erschwert. Die Folge sind explodierende Energiekosten für Europa, mit der Sorge vor einer weiteren Eskalation im Falle einer völligen Einstellung der Gaslieferungen. Im März stieg die Inflationsrate auf 7,6 % und im Mai gar auf 8,2 %. Das gesamte Güter- und Dienstleistungsangebot wurde von den Preissteigerungen erfasst.

Die Zwickmühle der Notenbank? Auch mit Blick auf Italien
 

Mit einer Inflationsrate von über 8 % und einem Leitzins von -0,5 % kommt schließlich jede Notenbank unter Rechtfertigungsdruck.  Dass diese Konstellation nicht mehr zeitgemäß ist, hat der Rentenmarkt mit einer Anpassung der Renditen - einem seismischen Schock ähnelnd - von März bis Juni versucht, deutlich zu machen.  Die Ratsmitglieder der EZB aber – immer noch unter dem Eindruck der ontologischen Eurokrise 2011 (und dem "what-ever-it-takes"-Imperativ) – bewegten sich (besser: wurden getrieben) in eine immer engere Zwickmühle, die die Handlungsmöglichkeiten massiv einschränkt.

Die Inflationsentwicklung droht bei weiterem Attentismus das Grundvertrauen der Bevölkerung in die Institution der Notenbank, als Währungshüter, ernsthaft zu gefährden. Mit der Vertrauensbasis wäre das wichtigste Asset einer Notenbank mit FIAT-Geld infrage gestellt. Ohne Vertrauen in die Notenbank kann es auch kein Vertrauen in die Währung, die die Notenbank verantwortet, geben. Ohne Vertrauen in die Währung aber drohen Flucht in reale Assets und andere Wertaufbewahrungsmittel. Einer galoppierenden Inflation wäre Tür und Tor geöffnet, eine Währungsreform nicht mehr undenkbar.

Dieser Zinsdruck von der Vertrauensseite trifft auf die Angst der EZB, durch Zinsanhebungen die Konditionen zur Refinanzierung ohnehin fragiler Staatshaushalte wieder zu gefährden und eine Eurokrise 2.0 zu verursachen. Der Anstieg der Konditionen zur Refinanzierung in Italien um einen Prozentpunkt führt zu einer Mehrbelastung des Budgets in Höhe von ca. 28 Mrd. €. Nicht sofort, aber perspektivisch, damit prognostizierbar und vom Rentenmarkt diskontierbar, mit allen Konsequenzen. Um dieser Entwicklung – einer Marktfragmentierung, wie es die EZB ausdrückt – entgegenzuwirken, versucht die EZB den Markt davon zu überzeugen, dass sie über Instrumente verfügt, die eben dies verhindern. Sie könnte zum Beispiel als Versicherer von italienischen Staatsanleihen unlimitiert einen bestimmten CDS-Spread im Markt anbieten, zu dem sich die Halter dieser Staatsanleihen gegen einen Ausfall versichern können. Dies käme faktisch einem Cap auf den Spread zwischen italienischen und deutschen Staatsanleihen gleich. Auch das ist mit Blick auf das moralische Risiko und die Steuerungsfunktion von Zinsen und Renditen sicher nicht unproblematisch.

Ein weiteres Problem für die EZB stellt das sich verschlechternde ökonomische Umfeld dar. Das Konsumentenvertrauen befindet sich auf einem Niveau, das unter dem von April 2020, also der Hochzeit der Corona-Krise liegt. Die Preissteigerungen reduzieren das reale verfügbare Einkommen und dürften sich in den Umsätzen und im realen Wachstum niederschlagen. Substanzielle Nachzahlungen für Heizung und Strom werden die Haushalte erst noch mit voller Wucht treffen. Lieferprobleme wegen der Lockdowns in China belasten weiter die Angebotsseite und mangelnde Personalkapazitäten schränken den Output in vielen Bereichen ein. Eine Rezession bei ausbleibenden Gaslieferungen im Jahr 2022 schließlich scheint ohnehin unabwendbar.

Was also tun? Wie verhält sich die EZB in diesem Trilemma sinnvoll? Welche Maßnahmen werden folgen? Das sind die Fragen, die sich die Marktteilnehmer derzeit stellen, durch die Ereignisse etwas ratlos auf der Suche nach einem neuen Fixpunkt, nach Stabilität und Sicherheit. Der Anker in Form scheinbar langfristig sicherer Leitzinsen auf aktuellem Niveau jedenfalls ging verloren.  Vielmehr ist auch die Notenbank gerade auf der Suche nach der Antwort auf folgende Fragen:

Wo liegt das Zinsniveau…
 

  • bei dem das Vertrauen der Bevölkerung in die Ernsthaftigkeit der Währungssicherung durch die EZB erhalten bleibt?

  • bei dem die Systemstabilität nicht durch eine neue Eurokrise gefährdet wird?

  • bei dem die fragile Konjunkturentwicklung nicht über Gebühr belastet wird und eine drastische Rezession ausgelöst wird?

Für die Beantwortung dieser Frage gilt es einzuschätzen, wie zinssensibel die Volkswirtschaft insgesamt ist, wie sich also Zinsänderungen auf Angebot und Nachfrage nach Kapital auswirken und welcher Nachfragerückgang auf Makroebene notwendig ist, um die Spielräume für Preisüberwälzungen der Unternehmen einzuschränken. Erschwert wird die Beantwortung durch die schwierige Prognose, ob und wann die coronabedingten Angebots-/Nachfrage-Ungleichgewichte in verschiedenen Bereichen sich wieder ausgleichen und wie sich die durch politische Beeinträchtigungen "verursachten" Preisanomalien weiter entwickeln. Ein Gaslieferstopp hätte auf der Inflationsseite noch einmal treibende Wirkung, auf der Konjunkturseite hingegen brächte er eine ausgewachsene Rezession mit sich, die dann wieder disinflationär wirken würde. Der Nettoeffekt ist schwer einzuschätzen.

Die Marktverunsicherung und der Verlust des Ankers am kurzen Ende der Kurven zeigt sich sehr schön in der Volatilität der impliziten Leitzinsen seit Jahresanfang. Dieser Satz gibt an, wo der Markt den €-Leitzins (Einlagenfazilität) jeweils in einem Jahr, also aktuell Mitte 2023 sieht (Grafik/Chart). Der Anstieg von -0,50 % auf +2,55 % innerhalb von 6 Monaten bedeutet eine 180-Grad Drehung der Markterwartungen. Ging der Markt noch im Dezember davon aus, dass es auf Sicht von 12 Monaten zu keiner Leitzinsänderung kommen würde, so befürchtete er Mitte Juni 12 Schritte um je 25 Basispunkte auf Jahressicht. Der Rückgang der Markterwartung auf wieder 1,38 % aktuell spiegelt wohl die Wahrscheinlichkeit wider, dass die Konjunktur ohnehin und speziell bei einer restriktiven Geldpolitik in eine Rezession geht. Die Arbeit der EZB wäre durch den Markt in Form deutlich höherer Renditen und damit steilerer Kurven bereits weitgehend erledigt und der Druck auf die EZB würde in diesem Szenario geringer. Ob dieses Szenario Realität wird oder letztendlich die Wahrheit anders aussehen wird, erfahren wir erst in einem Jahr. Eins ist gewiss: Wir brauchen nicht mehr zu jammern, dass wir am Markt keine Renditen geboten bekommen. Ob wir aber in einem Jahr froh darüber sein können, aktuelle Renditen gekauft zu haben oder doch wieder um jeden nicht investierten Euro dankbar sein werden, das wissen wir erst dann. Zumindest werden Zinsänderungs- und Spreadrisiken am Markt wieder deutlich besser bezahlt als noch vor einem halben Jahr. Die äußerst defensive und vorsichtige Anlagepolitik, die bis Mitte Juni richtig war, kann nunmehr wieder etwas in Richtung längere Laufzeiten und auch Spreadprodukte verändert werden, ohne aber dabei übermütig zu werden.  

Wie begegnen wir diesen Anforderungen im Asset Management?
 

Im derzeitigen Umfeld bleiben Flexibilität und aktives Management weiterhin der wahre Trumpf. Buy-and-Hold war schon lange kein erfolgreicher Ansatz mehr. In der aktuellen Situation ist eine ständige proaktive Anpassung der Anlagepolitik an sich schnell verändernde Marktfaktoren und ein sich noch schneller wandelndes Rendite- und Spreadumfeld die einzige Möglichkeit, um einen Mehrwert generieren zu können.  Entscheidend sind dabei Kompetenz und Markterfahrung im Rentenmanagement.

Ihr

Johann Peter Roßgoderer